Das Schwarmbewusstsein

Das Schwarmbewusstsein

Der Maschinenmensch: Das Schwarmbewusstsein

Autor: Kilian Hoock. Foto/Skulptur: Ignacio Basaure

Wir kennen riesige Vogelschwärme, die uns ihre Flugkünste zeigen, während sie dabei Raubvögeln gekonnt ausweichen können, Ameisen, die zu hunderten eine Leiter bilden, um Hindernisse zu überwinden. Es gibt viele Lebewesen, bei denen wir Phänomene des kollektiven Lernens und Verhaltens beobachten können, die sich weder durch eine autoritäre Führung oder anderen hierarchischen Einflüssen noch durch individuelle Erfahrungen erklären lassen. Die Schwarmintelligenz bildet sich vielmehr durch sich ergänzende kollektive Interaktionen und ist besonders bei sozialen Insekten beobachtbar. 

Eine allgemein gehaltene Definition findet sich bei Gabler: „Zwei oder mehr Individuen erwerben weitgehend unabhängig voneinander Informationen, die durch soziale Interaktion kombiniert und verarbeitet werden, sodass dadurch ein kognitives Problem auf eine Art und Weise gelöst wird, die für einzelne Individuen so nicht umsetzbar wäre.“ ("Schwarmintelligenz." Gabler Wirtschaftslexikon, Springer Fachmedien Wiesbaden, https://wirtschaftslexikon.gabler.de/definition/schwarmintelligenz-54132.) 

Individuelle Erfahrungen können für die Schwarmintelligenz zwar als Teil kollektiver Erfahrungen eine Rolle spielen, diese aber nicht gänzlich erklären. Ein Moment des kollektiven Lernens tritt gebündelt in einem zeitlichen Rahmen auf, betrifft mindestens zwei Individuen, die ihre Lösungsansätze kombinieren und deren Erfolg zu Nachahmern und einem veränderten Verhalten im Schwarm oder einer Gruppe führt. Die Veränderungen werden durch eine Kombination aus Sozialverhalten und dem Prozess des Lernens in das alltägliche Gruppenleben übertragen. 

Könnte es ein Schwarmbewusstsein geben, welches sich aus den individuellen Erfahrungen ihrer Mitglieder und dem Phänomen der Schwarmintelligenz ableiten lässt?  

In einem Gedankenexperiment treffe ich die Annahme, dass jedes menschliche Individuum Teil eines höheren Schwarmbewusstseins ist und zugleich ein individuelles Bewusstsein besitzt. So könnte es eine Art von Ur- oder Übermenschen geben, der auf einer anderen Bewusstseinsebene, jenseits unserer Sinneswahrnehmungen als intelligente Entität existiert und dessen Erfahrungen auf dem Leben aller Menschen beruht. Wäre dies der Fall und würden sich die Spekulationen bewahrheiten, so wäre es folglich das Ende unserer bewussten Individualität, in dem Moment, wenn wir begreifen, nur Teil eines größeren Bewusstseins zu sein.

Das menschliche Bewusstsein selbst ist das Ergebnis eines Systems, welches aus unzähligen sich wechselseitig bedingenden Teilsystemen besteht. So sind wir auf die Funktionen verschiedener kleinere Systeme angewiesen, wobei womöglich jedes einzelne ein Bewusstsein besitzt. Eine Individualität entsteht aus einer Bewusstseinsbündelung all dieser Teilsysteme, die sich nicht kumulativ aufbauen, sondern sich vielmehr in einer ergänzenden Harmonie befinden. 

Ein Systembewusstsein verfestigt sich durch das Erforschen der systeminternen materiellen Veranlagungen und durch ständiges Wiederholen und Entwickeln der dadurch erlernten Fähigkeiten in Abhängigkeit zur Umwelt. Die damit einhergehende Erfüllung von Funktionen und Schaffung von Lebensgrundlagen für andere Systeme geschieht meistens in Unwissenheit, verstärkt aber die wechselseitig verbundenen Strukturen aller beteiligten Systeme. Der Antrieb jeglicher Systembildung kommt aus dem Selbsterhaltungstrieb, der sich in dem Aufrechterhalten und Verbessern der grundlegendsten Systemstrukturen verdeutlicht.

Das Individuum geht davon aus, ein freies und eigenständiges Bewusstsein zu besitzen.           Das Schwarmbewusstsein bezieht sich hingegen auf ein kollektives Bewusstseinssystem, das außerhalb der sensorischen Wahrnehmungsebene des Individuums liegt.

Durch die Unterscheidung wird deutlich, dass es sich um hierarchisch strukturierte Bewusstseinszustände handelt, deren Existenzen sich wechselseitig bedingen. So nimmt sich jedes Individualsystem als eigenständig wahr, besitzt eine Art von Individualbewusstsein und ist zugleich Teil einer höheren kollektiven Bewusstseinsebene. 

Die Betrachtung kollektiver Intelligenzphänomene legt nahe, dass ein individuelles Bewusstsein lediglich das emergente Ergebnis komplexer, wechselseitig vernetzter Systeme sein könnte. Das Schwarmbewusstsein wäre die nächste Stufe des Individualbewusstseins.                                                                                                                                                         Die Fähigkeit zur Schwarmintelligenz demonstriert, wie durch dezentrale, interaktive Prozesse kollektives Wissen entstehen kann, das über die Fähigkeiten und den Erkenntnishorizont des Einzelnen hinausgeht.  Wird dieses Prinzip auf den Menschen übertragen, eröffnet sich die theoretische Möglichkeit eines übergeordneten Schwarmbewusstseins. Individuelle Erfahrungen wären dann als Teil eines größeren und schwer fassbaren Bewusstseinskomplexes aufzufassen. Diese Perspektive fordert die gängigen Vorstellungen über das Individuum heraus und deutet an, dass das unser Bewusstsein als ein dynamisches Zusammenspiel funktionaler Teilsysteme zu verstehen ist, dessen eigentliche Tiefe und Reichweite uns völlig unbekannt sind.

 

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